Dann kam der 11. September, der die Welt veränderte. Jener 11. September, an dem fast dreitausend Menschen starben und in der Folge einen nicht zu erwartenden Rachefeldzug verursachte. Der terroristische Akt (aus der Sicht der westlichen Welt beurteilt) verursachte Handlungen, die ein Vielfaches an Menschenleben kosteten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Rache wurde plötzlich offen geäußert. Ein Wort, das vorher nur selten in den Medien zu finden war und somit auch nur selten über diese Schiene einen sozialisatorischen Rahmen bildete. Die Menschen wurden weltweit mit Rachegedanken konfrontiert und diese erhielten ein breites Verständnis. Archaisch wie die Rache nun einmal ist, wurde dieser Trieb wieder entdeckt und erhielt eine Legitimation, die durchaus überraschend war. Es folgte Afghanistan, im Nahen Osten wurde ein Kreislauf der Vergeltung geübt, danach war der Irak der Inbegriff des Bösen, der Rache „verdiente“. Niemand war da, der sich diesen niedrig anmutenden Instinkten entgegenstellte. Die wenigen kritischen Stimmen versickerten in den medialen und politischen Diskursen. Bush und seine Kumpanen bleiben im Grunde unwidersprochen. Der Ground Zero, wie die Überreste des zerstörten World Trade Centers heißen, und seine Toten brauchten ihre Rache. Eine ganze Nation sann nach Rache. Ja, sogar eine ganze Lebenseinstellung – nämlich jene der westlichen Welt – schloss sich dem Bedürfnis nach Rache an. Plötzlich war das mediale Tabuthema überall präsent und wurde zu einem beängstigenden Erziehungsinstrument. Heute ist die in jedem Menschen verortete Rache losgelöst und offen gelegt. Die Frage, ob die Rache wieder gesellschaftlich en vogue ist, stellt sich für Sozialwissenschaftler, Psychologen und Pädagogen.
Karl Isak: Die Rachegesellschaft - Der Rachediskurs in den Printmedien. Ein Beitrag zur Logistik der Medien. 2003
Aber die Rache nennt sich niemals selbst bei ihrem eigenen Namen, am wenigsten dort, wo sie sich gerade rächt. Die Rache nennt sich „Strafe“. Sie setzt dadurch ihr feindseliges Wesen in den Schein des Rechtes. Sie verdeckt ihr widerwilliges Wesen durch den Schein der Zuweisung des Verdienten. Strafe nämlich, so heißt sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.
Martin Heidegger: Was heißt denken? 1954
Rache und Vergeltung sind nicht immer sofort als solche erkennbar. Sie sind still und verstecken sich hinter Forderungen hinter Gesetzen, hinter Alibiaktionen, hinter Populismus und hinter persönlichen Anliegen. Rachemaßnahmen werden von den Racheausführenden nicht zugegeben und meist nur von den von Racheaktionen Betroffenen so bezeichnet. Kaum jemand bekennt sich offen zur Rache. Der Mensch setzt für sein Ausgleichsbedürfnis für erlittenes Unrecht alternative Instrumente ein bzw. orientiert sich an diesen. So äußert sich das Rache- und Vergeltungsbedürfnis nicht offen. Rache und Vergeltung erscheinen in vielfältigen Formen – denken wir an die Strafen und die Rebellion, an Intrigen, an Boykotte und Sanktionen, an Ausgrenzungen, an Verleumdungen, an Aufbegehren und Revolution, an Verrat, Gewalt und Gegengewalt, an Mord und sogar an Selbstmord, an Gesetze, an den Strafvollzug oder an den Krieg. Die Ursachen, die zu rächenden und vergeltenden Maßnahmen führen, sind ebenso vielfältig. Macht, Eifersucht, Neid, Unrecht, Differenzierungen, Fremdheit und noch mehr sind Quellen der Rache, wie auch Traumata, die unbewusst geblieben sind und sich in Feindbildern entladen. Individuen, Gruppen und sogar ganze Völker sind von Rache und Vergeltung betroffen – als Ziel oder Absender von Rache- und Vergeltungsmaßnahmen. Rache und Vergeltung sind also ein komplexes Gebilde.
(...)
Die Rache wird im Verborgenen gehütet und manchmal sogar krampfhaft unterdrückt, aber meist verleugnet. Sie darf als solche nicht erkannt werden, denn sie würde sonst – wie ein unbelichteter Film, der mit der Sonne in Kontakt tritt – sofort ihren Wert verlieren. Dort, wo eine Belichtung notwendig oder sinnvoll erscheint, ist niemals das Bild der Rache zu sehen, sondern – wenn überhaupt – eines der vielen Synonyme. So ist auch zu erklären, dass Rache von dem Betroffenen, dem der die Rache erleiden soll, oft gar nicht als solche erkannt wird. Er empfindet vielleicht einen Schicksalsschlag, sieht einen Zufall oder erleidet einen vermeintlichen Unfall.
Karl Isak: Die Rachegesellschaft – Der Rachediskurs in den Printmedien. Ein Beitrag zur Logistik der Medien. 2003
Die Akzeptanz der Vergeltung als „geltender Entsprechung“ ist offenbar weltweit verbreitet. Widerspruch findet sich eigentlich nur bei Sokrates und, weit energischer in einigen Sätzen und Passagen des Neuen Testaments: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem“. Dies hat sich nicht durchgesetzt. Gemeinhin gilt TIT FOR TAT – (man beginne mit Vertrauen, reagiere aber auf Negatives sofort negativ). So wird Strafe mit Befriedigung „quittiert“, bei Heiden wie bei Christen. „An denen, die etwas Böses getan haben, sich zu rächen ist gerecht.“ Man ist stolz, „Böses mit Bösem wechseln“ zu können; so formuliert es Archilochos. Die Rache qua Gegenaggression wird Wechsel, Zahlung, Erstattung, Ersatz und Wiedergutmachung genannt und so gerechtfertigt. „das zahle ich dir heim“ oder „das zahlst du mir heim“
Walter Burkert: „Vergeltung“ zwischen Ethologie und Ethik – Reflexe und Reflexionen in Texten und Mythologien des Altertums. 1994
Die Ruhe aber stellt sich ein, wenn man Vergeltung geübt hat. Denn die Rache setzt dem Zorn ein Ziel, indem sie Freude anstelle des Schmerzes hervorruft. Solange dieses nicht geschieht bleibt der Druck auf ihnen lasten. Denn da ihre Stimmung nicht nach außen tritt, so redet auch niemand ihnen gütlich zu, und um für sich selber den Zorn zu verwinden, braucht es Zeit. Solche Leute sind sich selbst und ihren besten Freunden eine schwere Last. Grimmig nennen wir die, die aus unrechtem Anlass und mehr und länger als sich gehört, zürnen und nicht eher aufhören, bis Rache oder Strafe erfolgt ist.
Aristoteles: Nikomachische Ethik - übersetzt von Eugen Rolfes 1985
Ebenso ist festzustellen, dass in den rückständigen Gruppen (...) das Rachegefühl (zum Beispiel für eine nationale Niederlage) am stärksten zu sein scheint. So ist das Kleinbürgertum, dem es bei den Industrievölkern am schlechtesten geht, in vielen Ländern der Hauptherd der Rachegefühle, wie es ja auch der Hauptherd der rassistischen und nationalistischen Gefühle ist.
Erich Fromm: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen. 1964
Ein Grund, dass Rache nicht zu den offen dargelegten Inhalten der Diskurse zählt, ist ihre Verbindung mit dem Archaischen. Rache wird zu den niedrigen Instinkten gerechnet, und ihr gehört ein Riegel vorgeschoben. Da sie aber ganz offensichtlich doch ihren Platz braucht und auch in Anspruch nimmt, entlädt sie sich anderweitig.
Karl Isak: Die Rachegesellschaft – Der Rachediskurs in den Printmedien. Ein Beitrag zur Logistik der Medien. 2003
Semantisch gesehen ist der Rachebegriff negativ besetzt, ähnliches gilt auch für das Wort Vergeltung. Sie gehören zu jenen „Minuswörtern“, mit denen niemand direkt in Verbindung gebracht wird. Insbesondere die Rache wird als niedriger Instinkt angesehen, der in der heutigen Werte- und Normengesellschaft keinen sichtbaren Platz finden darf. Rache und Vergeltung haben etwas Logophobisches an sich. Sie gehören zu den Worttabus, welche die Vorstellung in sich bergen, dass bestimmte Wörter nicht ausgesprochen werden dürfen, weil dies die Götter reize, und Unglück bringe und gegen die guten Sitten verstoße
Wolf Schneider: Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache. 1976
Vergeltung wird heute fast nur negativ verwendet im Sinne vor allem von Rache. Dem war früher nicht so; ich erinnere lediglich an das „Vergelt’s Gott“ das noch in meiner Kindheit als Dankspruch in Brauch war. In früheren Gesellschaften findet sich auch die positive Vergeltung. „Die Gabe verlangt Vergeltung“ heißt es, sinngemäß in diesen Kulturen. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass von alters her in den Religionen die Strafe überwiegt. Bis in unsere Gegenwart obsiegt ja in der Idee der Gerechtigkeit, die ohne Vergeltung gar nicht zu denken ist, das Moment der Strafe und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sogar im aufgeklärten quasi-humanistischen Strafrecht die Rachsucht nur schwer zu übertünchen ist.“
Georg Jánoska: Vergeltung und Schuld. 1987
Rache ist Vergeltung und ruft nach neuen Vergeltungsmaßnahmen. Das durch Rache geahndete Verbrechen versteht sich selbst nur äußerst selten als ursprüngliches Verbrechen; es will bereits Rache für ein früheres Verbrechen sein.
René Girard: La Violence et le Sacré. 1972 (Das Heilige und die Gewalt. 1987)
Rache ist nicht Befreiung von der Vergangenheit, nicht Befriedung & Versöhnung, sondern ihre Wiederholung – wenn wir ihre zeitliche Dimension betonen wollen. Das im Englischen gebräuchliche Wort der >re-venge<; macht den Charakter der Wiederholung besonders deutlich, den reaktiven Anteil an der Tat.
Gerhild Ganglbauer: >Rache<;. Ein Plädoyer für die Einbildungskraft in der politischen Kritik. 1999
Dies, ja dies allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr >Es war<
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. 1883
Kriegerische Gewalt verursacht, wie es beim einzelnen Mord ebenfalls geschieht, Rachegefühle. Es drängt sich die Pflicht zur Rache deshalb auf, weil Mord Abscheu erweckt und weil die Menschen am Töten gehindert werden müssen. Die Verpflichtung, kein Blut zu vergießen, ist nicht eigentlich von der Verpflichtung, vergossenes Blut zu rächen, zu trennen. Um also der Rache ein Ende zu setzen, um heute Kriegen ein Ende zu setzen, genügt es nicht, die Menschen von der Verabscheuungswürdigkeit der Gewalt zu überzeugen; gerade weil sie davon überzeugt sind, machen sie es sich zur Pflicht, Gewalt zu rächen.
René Girard: La Violence et le Sacré. 1972 (Das Heilige und die Gewalt. 1987)
Im Unterschied zur Rache, die sich als eine natürlich-automatische Reaktion gegen Verfehlungen jeder Art einstellt und die auf Grund der Unwiderruflichkeit der Prozesse des Handelns berechenbar ist, stellt der Akt des Verzeihens in seiner Weise einen neuen Anfang dar und bleibt als solcher unberechenbar. Verzeihen ist die einzige Reaktion, auf die man nicht gefasst sein kann, die unerwartet ist, und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist. Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird.
Hannah Arendth: The Human Condition. 1958 (Vita activa oder vom tätigen Leben. 1967)